Interview mit Sara


(weiblich, 39 Jahre alt, seit dem 17. Lebensjahr ausgestiegen)


Wurdest Du in eine scientologische Familie hineingeboren? - Wenn nicht: Hattest Du noch Erinnerungen an Dein Leben vorher – gute oder schlechte? Hast Du etwas vermisst?

Ich bin nicht in Scientology geboren. Ich war sechs Jahre alt, als meine Eltern in die Sea Org eintraten. Meine Erinnerungen ans Leben vor Scientology waren gemischt – gute und schlechte.
 

Meine frühesten Erinnerungen habe ich, als ich fünf Jahre alt war und meine Eltern sich trennten, weil mein Vater Scientology Kurse machte und seinen Job als Professor kündigte. Sie trennten sich, weil mein Dad wollte, dass meine Mom Scientology Kurse machte. Meine Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch, und mein Vater sandte meine Mutter und uns Kinder von Los Angeles nach Wisconsin zu meiner Grossmutter mütterlicherseits, während er in Los Angeles blieb und sich immer mehr bei Scientology engagierte. An das Leben in Wisconsin habe ich sehr viele glückliche Erinnerungen. Nach einen Jahr kamen meine Mutter und mein Vater wieder zusammen und wir kehrten nach Los Angeles zurück, wo wir dann in die Sea Org eintraten.  


Als ich dann in der Sea Org war, vermisste ich meine Grossmutter und meine Cousins, die in Wisconsin lebten. Ich vermisste auch meine Eltern, denn sie arbeiteten immer und ich sah sie nur an einem Tag in der Woche, wenn überhaupt. Nach einer Weile gewöhnte ich mich daran, dass ich nicht mehr bei ihnen war. Die Sea Org Kinder waren alle zusammen in einem Gebäude mit einem oder zwei Erwachsenen, wenn welche verfügbar waren, die auf uns aufpassten und uns zu Essen gaben; auch unsere Arbeit bekamen wir von ihnen. Die Art von Arbeit, die wir zu tun hatten, waren z. B. Arbeit im Garten, Anstreichen, allgemeine Hausarbeiten; manchmal halfen wir auch in der Org beim Kouvertieren oder beim füllen von Mappen, die zur Verbreitung und Werbung für die Öffentlichkeit bestimmt waren.


Ich erinnere mich an eine Szene, als ich acht oder neue war und mit einem Freund ein Brettspiel spielte: Eine Frau schrie uns an, weil wir das Spiel spielten obwohl wir arbeiten sollten. Es war dort alles sehr schmutzig und heruntergekommen. Es gab überall Schaben und die Kinder bekamen oft Läuse. Kleine Kinder liess man oft unbeaufsichtigt. Die Eltern von einigen unserer Freunde kauften ihren Kindern neue Kleidung, weil sie Geld hatten. Meine Eltern gingen mit uns immer zum Second Hand Shop zum Einkaufen. Als ich dann 11 oder 12 war, trat ich der Commodores Messenger Organisation (CMO) bei und arbeitete nach Vollzeitplan, d.h. von 9.00 bis 23.00, sieben Tage die Woche. Wir sollten alle zwei Wochen einen Tag frei bekommen, doch normalerweise bekamen wir diesen Tag nicht frei. Wir verdienten etwa 10-15 $ in der Woche.

 

Als Du in Scientology aufgewachsen bist, hattest Du da noch Kontakt zur Aussenwelt? – Wie hast Du die Aussenwelt wahrgenommen?

Mein hauptsächlicher Kontakt zur Aussenwelt war, dass ich in eine öffentliche Schule ging. Ich hatte Kontakt zu meinen Lehrern und ein paar Kindern, obwohl die Sea Org Kinder in der Schule eher unter sich blieben. Als ich ungefähr 12 Jahre alt war (ich war in der 6. Klasse), änderte die Sea Org die Richtlinie bezüglich des Schulbesuchs von Sea Org Kindern in öffentlichen Schulen. Alle Kinder mussten nun in eine Sea Org „Schule“ gehen; das war einfach ein Raum, in dem ein Erwachsener auf uns aufpasste, während wir uns durch Checklisten durcharbeiteten. Es war eigentlich keine wirkliche Schule und wir lernten dort auch nichts.

Nachdem ich die öffentliche Schule verlassen hatte, war mein Kontakt zur Aussenwelt praktisch vorbei. In der Sea Org nahm man die Aussenwelt als einen chaotischen, hoffnungslosen Ort wahr, dem wir zu helfen versuchten, indem wir den Planet „klärten“. Sea Org Mitarbeiter lasen selten die Zeitung oder schauten sich die Nachrichten an. Es gab immer Events und Mitarbeiter-Treffen, an denen sie ihre Lügen und ihre Propaganda verbreiteten. Ungefähr 1979 verbannten sie Fernseher, indem sie behauteten, dass die Abtrahlungen der Geräte gefährlich wären. Ich erinnere mich, dass mir viele Sea Org Mitglieder erzählten, dass sie am College waren, doch machten sie es immer runter. Sie sagten dann z. B. dass sie damals Drogen genommen hatten, und an vielen missverstandenen Wörtern vorbeigegangen wären. Bei ihnen klang das so, als ob das College eine Zeitverschwendung wäre.



Hatten Deine Eltern genug Zeit für Dich? Ich weiss, dass das eine sehr subjektive Frage ist, aber sieh es unter dem Gesichtspunkt: Hattest Du das Gefühl, dass Deine Eltern unter dem Aspekt der Eltern-Kind Beziehung genug Zeit mit Dir verbrachten? Fühltest Du Dich irgendwann vernachlässigt?


Nein, meine Eltern hatten nicht genug Zeit für mich. Sie arbeiteten fast immer. Ich sah sie nicht sehr oft, ausser in der Zeit (das dauerte ungefähr zwei Jahre), als die Sea Org “Familienzeit” einführte; das war dann eine Stunde am Tag, die die Eltern mit ihren Kindern gemeinsam verbrachten. Einmal unternahmen wir sogar zwei oder drei Tage lang zusammen eine Ausflug zum Yosemite Nationalpark. Als ich 10 war, verliess meine Familie die Sea Org für ungefähr 8 Monate, um eine Familiensituation zu handhaben. Meine Grossmutter hatte Scientology-Auditing erhalten und drohte zu klagen, als man ihr das Geld nicht mehr zurückgeben wollte. Mein Vater arbeitete und sparte Geld, damit wir uns einen eigenen Bus leisten konnten; dann fuhren wir nach Wisconsin, um meine Grossmutter zu besuchen. Diese 8 Monate, als wir nicht in der Sea Org waren, waren wir wie eine Familie, doch gab es viel Stress, da wir von der Sozialhilfe lebten und in einer Dachgeschosswohnung lebten, weil wir ja kein Geld hatten. Als mein Vater meine Grossmutter schliesslich überzeugte, eine Erklärung zu unterschreiben, dass sie nicht klagen würde, kehrten wir in die Sea Org zurück.
 

Mein Vater war sehr streng und schrie meine Mutter und uns an. Wir fürchteten uns vor ihm und redeten nicht sehr viel mit ihm. Ich hatte das Gefühl, dass meine Supervisoren in der CMO (Commodores Messenger Organisation) eher wie Eltern und Bezugspersonen zu mir waren als meine richtigen Eltern. Ich fühlte mich nicht richtig vernachlässigt, ich kannte einfach nichts anderes. Wenn ich jetzt zurückschaue auf meine Kindheit, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich meine eigenen Kinder so behandeln würde wie ich in der Sea Org behandelt wurde. Es war ein  widerwärtiger Kindsmissbrauch, doch meine Eltern waren so gehirngewaschen, dass sie dachten, dass das Klären des Planeten wichtiger war als alles andere.



Hast Du von ganzem Herzen daran geglaubt, als Du drinnen warst?

Ja, ich war darauf vorbereitet, mein ganzes Leben (und die nächste Milliarde Jahre) in der Sea Org zu verbringen. Ich dachte, dass wenn wir den Planeten nicht klärten, würden die Wogs (verächtlicher Begriff für Nicht-Scientologen) den dritten Weltkrieg beginnen und wir würden alle sterben. Ich dachte wirklich, dass ich eine sehr schwere Verantwortung auf meinen Schultern trug um den Planeten zu retten. Ich war umgeben von Leuten, die L. Ron Hubbard ununterbrochen anpriesen und von unglaublichen „Gewinnen“ erzählten, die sie von seinen Kursen und dem Auditing hatten. Überall im ganzen Gebäude gab es Bilder von ihm. Wir studierten seine Schriften und „wortklärten“ sie; das bedeutete, dass wir seine Richtlinien wieder und wieder lesen mussten bis zu dem Punkt, dass wenn uns jemand die Definition eines beliebigen Wortes in einer Richtlinie fragte, wir jede mögliche Definition wissen mussten, andernfalls müssten wir das Wort nachschauen und das „Wortklären“ wieder von vorne beginnen.


Wir mussten immer noch härter und noch schneller arbeiten. Jedes Sea Org Mitglied hatte eine Statistik für seinen Job. Wenn die Statistik niedriger als in der Vorwoche war, wurde man auf verschiedene Weise bestraft, wie z. B. keinen Tag frei zu bekommen, nicht bezahlt zu werden oder nur Reis und Bohnen zu essen zu bekommen. Sea Org Mitglieder standen ständig unter Stress und litten an Schlafmangel. Die Supervisoren schrieen und fluchten mit ihren Untergebenen, wenn die Arbeit nicht schnell genug ging. Viele Sea Org Mitglieder rauchten Zigaretten. Ich fing an zu rauchen als ich 16 war.


[siehe dazu auch Kinderauditing]



Was hast Du beobachtet, das Zweifel an der ganzen Sache in Dir ausgelöst hat?


Als ich nach CMO Int, dem geheimen Scientology Hauptquartier in Hemet, Kalifornien, geschickt wurde, war ich überrascht zu sehen, dass die Leute, die im oberen Management arbeiteten, nicht sehr professionell aussahen. Sie trugen keine Uniformen wie das Management in Los Angeles. Je länger ich in Int war, desto mehr Dinge beobachtete ich, die keinen Sinn machten. Ich sah, dass David Miscavige sich wie ein Tyrann verhielt. Ich arbeitete für Vicky Aznaran als ihre „Sekretärin“. Sie sagte mir, ich solle ihre Post lesen und alles „Entheta“ (Negatives über Scientology) aus ihrem Fach entfernen. Ich war zu der Zeit 15 und hatte absolut keine Ahnung, wie ich Entheta von einer berechtigten Beschwerde unterscheiden sollte.
 

Ich war in Int, als das Laufprogramm anfing; ich dachte mir, dass das eher wie eine Bestrafung als wie ein scientologischer Prozess aussah. Ich sah Dokumente, die von Tonbandaufzeichnungen Hubbards transkribiert worden waren. Eines davon war eine Anordnung, jemanden in den See in Hemet zu werfen. Ich war geschockt, als ich das las, ich wusste nicht dass sie Leute in den See warfen, ich wusste nicht einmal, dass es auf dem Anwesen überhaupt einen See gab. Ein anderes Mal bereitete jemand ein spezielles Dessert für L. Ron Hubbard zu und man schickte es ihm. Ich sah die Transkription seiner Kritik des Desserts und fand seine Worte sehr undankbar.

Da ich im geheimen internationalen Hauptquartier von Scientology gewesen war, hatte ich keine Ehrfurcht mehr vor Int. Meine Zweifel stiegen, nachdem ich von Int in das RPF (scientologisches Straflager) in Los Angeles geschickt und auf das Laufprogramm gesetzt wurde. Ich war über 200 Tage auf diesem Programm, als ich 16 Jahre alt war. Wir rannten 12 Stunden (!) um einen Pfahl herum. Mir wurde klar, dass ich mich durch das Programm hätte durchschwindeln können, doch dachte ich, wenn Hubbard wirklich der “Gott” war, den jeder aus ihm machte, müsste auch das Laufprogramm etwas bringen, doch es brachte mir gar nichts. Schliesslich holten sie mich vom Laufprogramm runter und steckten mich wieder ins reguläre RPF. Mein Bruder, der die Sea Org schon verlassen hatte, kamm mich dann einmal besuchen – und er gab mir den Mut zu gehen, indem er auf die offensichtlichen Lügen und Missbräuche der Sea Org Mitglieder hinwies.



Hattest Du die Möglichkeit oder das Vertrauen in Deine Eltern, Deine Gedanken offen mit Ihnen zu diskutieren?
 

Nein. Ich stand meinen Eltern emotional gesehen nicht sehr nahe. Ich hatte das Gefühl, dass meine Gefährten in der Sea Org eher meine Familie waren als meine richtige Familie. Wir hatten „Familienzeit“ und dann verbrachten die Eltern eine Stunde pro Tag mit ihren Kindern. Ich ging dann ins Zimmer meiner Eltern und schaute fern (das war bevor sie das Fernsehen verboten). Normalerweise lagen meine Mom und mein Dad dann einfach auf ihren Betten und hielten ein Nickerchen. Ich erinnere mich, als ich 13 war, hielt ich meine Eltern für „degradierte Wesen“ und das einzige (so dachte ich), was sie mir je Gutes getan hatten, war, mich zu Scientology zu bringen.


Als ich mich mit 16 Jahren entschloss zu gehen, versuchte mein Vater, mir das auszureden. Er sagte sogar, dass er die Polizei rufen würde, wenn ich versuchte zu gehen, doch ich wusste, dass die Polizei mich nicht zwingen würde, in der Sea Org zu bleiben. Denn eigentlich war es ja so, dass Sea Org Mitglieder versuchten, jeglichen Kontakt mit den Autoritäten in der realen Welt draussen zu vermeiden, denn sie sind immer um das öffentliche Bild von Scientology besorgt. Als mein Vater dann einsah, dass er mich nicht umstimmen konnte, machte er einige  Spaziergänge mit mir und gab mir Ratschläge. Meine Mutter schien es nicht sehr zu kümmern, dass ich ging, sie war nur besorgt darüber, ob ich mich wohl um mich selbst würde kümmern können.



Warum bist Du gegangen? Musstest Du die Verbindung mit anderen Familienmitgliedern (Eltern, Brüdern, Schwestern …) deswegen abbrechen?


Als ich auf dem Laufprogramm und im RPF war, war mein Leben furchtbar. Zudem hatte ich einen älteren Bruder und zwei Schwestern, die die Sea Org schon verlassen hatten; das bestärkte mich darin, dass es möglich war, ausserhalb der Sea Org zu überleben. Ich musste die Verbindung zu meinen Eltern und einer Schwester, die immer noch in der Sea Org war, nicht abbrechen. Ich ging dann an den Wochenenden zur Org und besuchte sie. Die meisten meiner engsten Freunde hatten die Sea Org schon vor mir verlassen, doch ich hatte keine Adressen oder Telefonnummern um sie zu kontaktieren.



Da Scientology das erste Glaubenssystem ist, das Du kennengelernt hast – hast Du Dich inzwischen einem anderen Glaubenssystem angeschlossen? Welche Art von Schwierigkeiten hattest Du, Dich an ein neues Glaubenssystem anzupassen (kann jegliche Religion oder Philosophie sein)?
 

Ich habe mich keinem anderen Glaubenssystem angeschlossen. Das ist etwas, das mir in der Vergangenheit sehr viel Unbehagen ausgelöst hat, doch jetzt ist es mir ziemlich egal. Ich würde lieber an gar nichts glauben, als etwas nur aufgrund eines Glaubens zu akzeptieren. Ich bin zu zynisch um etwas einfach so zu glauben. Ich denke, ich bin ein Humanist/Agnostiker/Atheist. Meine Eltern waren Katholiken, bevor sie zu Scientology kamen, und mein Mann ist auch Katholik, doch nimmt er das nicht sehr ernst.


Manchmal gehe ich in die katholische Kirche, doch fühle ich keine Verbindung zur Predigt noch zu dem Menschen dort; ich habe eher das Gefühl, dass sie an Märchen oder Mythen glauben. Es gibt zuviel „Magie“ und zuwenig Respekt für Frauen in der katholischen Kirche; deswegen spricht mich das nicht an. Eines der Dinge, die mir in Scientology gefielen, als ich noch daran glaubte, war, dass sie jeden als geistiges Wesen sahen; da zählte Rasse, Alter oder Geschlecht nicht.


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