Allgemeine Stellungnahme zum Spannungsfeld

Scientology und Kindererziehung

dieser Text stammt von einer sehr lieben Ex-Scientologin, die ihn mir
mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung übergeben hat



Als ehemalige Scientologin bin ich – meine Insider-Informationen nützend – nun schon seit Jahren in der Aufklärung über mögliche Konfliktbereiche unserer Gesellschaft mit Scientology tätig. Dabei musste ich immer wieder feststellen, dass jene Krisenpunkte vielfach unterschätzt werden, die speziell Kindern Probleme verursachen können, die in einem Scientology-geprägten Umfeld aufwachsen.

Diese Darstellung soll dazu beitragen, das vorhandene Informationsdefizit zu verringern.

Wenn Scientologen einem Aussenstehenden ihre "Weltanschauung" vorstellen, so scheint diese ja alles andere als bedenklich oder gar gefährlich; auch mir ist es nicht anders ergangen: die Ideen und Theorien, von denen sie in diesem Fall sprechen, sind durchwegs Vorstellungen, bei denen man denkt: "ja, warum nicht; das kann man so sehen" (alle Menschen sind im Grunde gut und werden nur durch negative Erlebnisse daran gehindert, das auch zu leben; alle Krankheiten sind im Grunde psychosomatisch, weil zufriedene und glückliche Menschen höhere Abwehrkräfte haben, besser auf ihren Körper achten, ...;) – Erst später lernte ich, dass diese Präsentation Frucht genauer Anweisungen und Vorschriften darüber ist, wie man Scientology in der Öffentlichkeit darzustellen hat; diese Präsentation verdeckt oft sehr erfolgreich jene Probleme, die ein Engagement bei Scientology für einen Menschen und für seine Angehörigen hervorrufen kann.

Ich bin weder Juristin noch Psychologin, aber auf Grund meiner Erfahrungen und meiner Lektüre sehe ich eine Reihe von Problemen, die für die körperliche und/oder psychische Entwicklung eines Kindes unter dem Einfluss der scientologischen Lehre so wie durch die praktische Lebensführung von Scientologen entstehen können. Einige Beispiele möchte ich in der Folge skizzieren:

Auf grundsätzliche Probleme im Welt- und Menschenbild der Scientology möchte ich nicht ausführlich eingehen, da dies den Rahmen dieser Darstellung sprengen würde; allerdings wäre es meiner Ansicht nach durchaus der Untersuchung wert, wie es sich etwa auf die seelische Entwicklung eines Kindes auswirkt, wenn es mit dem Anspruch aufwächst, möglichst schnell übermenschliche Fähigkeiten zu erlangen; damit, dass es diesem Anspruch auf Grund seiner Zugehörigkeit zu einer Elite gerecht werden muss, und damit, dass ein Nichterlangen dieser postulierten Fähigkeiten ausschliesslich seinem eigenen (schuldhaften) Versagen zuzuschreiben ist.

Oder wenn es mit der Überzeugung seiner Eltern leben muss, dass natürliche Emotionen wie Mitleid oder Zorn, Unsicherheit oder Trauer nicht zum selbstverständlichen Erlebnisspektrum eines Menschen gehören, sondern als Ausdruck einer "Aberration"[1] unerwünscht und daher auszuräumen sind; das heisst, wenn "glücklich sein" quasi zum moralischen Postulat wird.

Oder unter welchen Auspizien die moralische Entwicklung eines Menschen steht, der unter "Ethik" das "Beseitigen von Gegenabsichten" zu verstehen lernt[2], und für den Gegner seiner Anschauungen buchstäblich als "vogelfrei" gelten[3]

Oder wie es sich entwickeln wird, wenn von seinen Respekts- und Vertrauenspersonen grundlegende Werte unserer Gesellschaftsordnung wie Demokratie, Mitleid, Solidarität mit den Schwächeren geleugnet oder verächtlich gemacht werden[4]; vor allem wenn an ihrer Stelle etwa ein ins absurde gesteigertes Leistungs-, Profit- und Machtstreben[5]gelebt wird.

Leider ergeben sich über diese grundsätzlichen Krisenpunkte hinaus noch weitere, konkretere Probleme: Ich habe z.B. während der Zeit meiner Mitgliedschaft zu Scientology vielfach einen Umgang mit Kindern beobachtet, der mich sogar damals befremdet hat:

So liess etwa eine Mutter ihren wenige Wochen alten Säugling bis zu 2 ½ Stunden allein in einem abgelegenen Raum der Organisation, während sie selbst in der "Akademie" "studierte". Als ich den Kleinen weinen hörte, machte ich sie darauf aufmerksam, dass ihr Sohn sie brauche. Sie aber erklärte – streng nach scientologischer Überzeugung – das Baby müsse begreifen, dass es sie "unterdrücke", wenn es sie am studieren hindere; sie werde sich nicht vor der Pause um ihr Kind kümmern; wenn es durch seine unethische Handlungsweise einen Schaden erleide, so könnte man den ja später durch "Auditing" beheben.

Natürlich könnte man behaupten, dies sei ein Einzelfall, der mit den Anschauungen von Scientology nichts zu tun habe; dem widerspricht aber die Tatsache, dass die gesamte abstruse Argumentation auf grundlegenden Theorien der Scientology-Lehre aufbaut; und zu denen gehört z.B. auch die Tatsache, dass jede spezifische "Entwicklungs"psychologie in Abrede gestellt wird: Kinder gelten auf Grund der Anwendung allgemeiner Lehren im wesentlichen als kleine Erwachsene – mit allen Konsequenzen, die sich daraus in einer scientologischen Umgebung ergeben.

Auch was von Scientologen als notwendig und sinnvoll für Kinder angesehen wird, ist aus meiner Sicht z.T. sogar kontraproduktiv: So wird etwa ein Mensch (also auch ein Kind), der sich z.B. den Kopf an einer Türe anstösst, nicht getröstet; er wird – möglichst schweigend – zu dieser Türe geführt und veranlasst, die selbe Stelle mit dem Kopf wieder und wieder zu berühren; diese "Kontaktassist" genannte Praxis soll dazu dienen, das schmerzhafte Erlebnis möglichst sofort unwirksam zu machen. – Mir als Laien scheint allerdings eine eventuelle Traumatisierung speziell bei Kindern wesentlich wahrscheinlicher.

Streit zwischen Kindern wird – sogar schon bei Kleinkindern – dadurch "gehandhabt", dass man beide veranlasst, sich auf etwa 1 ½ m Abstand gegenüber zu sitzen und in die Augen zu schauen – so lange bis sich beide beim Anblick des anderen "wohl fühlen". – Ich glaube jeder Kommentar erübrigt sich!

Zweifelhaft erscheint mir allerdings, ob diese Kinder das bekommen können, was für sie tatsächlich notwendig ist: liebevolle Zuwendung – mit allem was dazugehört: Anerkennung und Ermunterung, Zeit für Spiele und Gespräche, für gemeinsamen Spass und gemeinsame Abenteuer; denn alle diese Dinge sind in den Augen von Scientologen "DevT" (=Zeitvergeudung); sie hindern daran, die notwendige, ständig steigende Leistung zu erbringen.

Sicher, auch Scientologen tun alles, was aus ihrer Sicht für ihre Kinder wichtig ist: sie ermöglichen ihnen schon möglichst früh den Besuch von Scientology-Kursen; bezahlen das teure Auditing, das auch speziell für Kinder angeboten wird, ... (schliesslich äussert sogar Scientology-Gründer Hubbard, der Wert einer Gesellschaft lasse sich aus ihrem Verhältnis zu Kindern schliessen.) – ob diese Form der Unterstützung für die Kindern tatsächlich hilfreich ist, wage ich zu bezweifeln.

Da Scientology ausserdem ganz klar den Anspruch erhebt, in physischer und psychischer Hinsicht therapeutisch wirksam zu sein[6], kann es auch ganz automatisch zu einer inadäquaten Behandlung körperlicher oder seelischer Krankheiten kommen. – In diesem Zusammenhang scheint mir übrigens auch die These besonders problematisch, dass jede Krankheit in irgendeiner Form auf ein schuldhaftes Verhalten des Kranken – entweder in diesem Leben oder in einem früheren – zurückzuführen ist!

Beim sogenannten "Reinigungsrundown", der vor atomarer Strahlung schützen soll, werden stark überhöhte Dosen verschiedener Vitamine verabreicht:

Vitamin A bis 50000 internationale Einheiten, Vitamin D bis 2000 internationale Einheiten, Vitamin C 5 - 6 g, Vitamin E bis 2400 internationale Einheiten, Vitamin B1 800 - 1300mg, Niacin 3500 - 5000mg

(vgl. HCOB 14. 2. 80, S.4)
Und auch sonst habe ich in meiner Zeit als Scientologin einen sehr lockeren Umgang mit extrem hohen Dosen einzelner Vitamine erlebt. Wie sich so eine Praxis auf die Gesundheit von Kindern auswirken kann, entzieht sich meiner Beurteilung – aber es wäre einer Überprüfung wert!

Der Besuch einer öffentlichen Schule und der Kontakt zu anderen Kindern und damit zur normalen Vielfalt unserer Gesellschaft könnten für scientologisch erzogene Kinder ein Korrektiv zu den extremen Ansichten ihres Elternhauses darstellen. Leider aber wird von vielen Scientologen eine "interne" Erziehung forciert: entweder im sogenannten "Kreativ-College" oder durch die Eltern selbst im Rahmen des häuslichen Unterrichtes. Dann bleibt den Kindern auch diese Möglichkeit verschlossen, ihre Erfahrungen zu relativieren.

In den letzten Jahren berufen sich Scientologen immer wieder auf die Freiheit der Religionsausübung bzw. der religiösen Erziehung, wenn an ihren Lehren oder Praktiken Kritik geübt wird. Es erscheint mir allerdings mehr als zweifelhaft, ob Scientology überhaupt als "Religion" (selbst im weitesten Sinn) angesehen werden kann. Sowohl die Eigendefinitionen, die Scientology als "Wissenschaft" darstellen[7], die "keinen Glauben an irgend etwas" verlangt, als auch meine persönliche Erfahrung sprechen dagegen: Es kam mir nie in den Sinn; Scientology als "Religion" zu betrachten; für mich war sie eine Theorie zur Funktion der menschlichen Psyche, die auch eine eigene Behandlungsmethode entwickelt hatte. Und so ähnlich haben es damals auch meine scientologischen Bekannten gesehen. Erst in den letzten Jahren wurde das kirchliche Erscheinungsbild auf- und ausgebaut, die religiöse Argumentationsschiene gepflegt. U.a. deshalb scheint es mir, dass der Rechtsgrundsatz von der Freiheit der religiösen Kindererziehung so wie der Religionsfreiheit im allgemeinen hier nicht zur Anwendung kommen kann.

Auch die Möglichkeit, dass sich etliche Scientologen (z.B. in ihrer Rolle als Eltern) nicht in jeder Hinsicht an die Richtlinien des Gründers halten, so wie viele Christen nicht allen Weisungen der päpstlichen Enzykliken folgen, scheint mir unrealistisch: Scientology ist eine Weltsicht, die praktisch alle Lebensbereiche erfasst; sie wird unter Ausnutzung tiefenpsychologischer Wirkmechanismen ins Bewusstsein jener Menschen geprägt, die sich ihr anvertrauen; und sie wird in einer totalitär geführten Organisation praktiziert. Kein Mensch wird sich unter diesen Umständen in seiner Lebensführung weit von der eigentlichen Lehre entfernen. – Behauptet er das, so sagt er wissentlich oder unwissentlich die Unwahrheit.

Es erscheint mir daher ungeheuer wichtig, dass der spezifischen Problematik von Kindern, die in einer Scientology-geprägten Umgebung aufwachsen, in Zukunft mehr Beachtung geschenkt wird. Leider konnte ich in diesem Rahmen nur Beispiele der vielfältigen möglichen Krisenpunkte anführen; und ich konnte sie nur kurz skizzieren und nicht in ihrer Komplexität ausführlich darstellen. Ich hoffe, es ist mir trotzdem gelungen, meine Bedenken plausibel zu machen.

Es geht mir grundsätzlich nicht um einen Eingriff in die Religionsfreiheit von Eltern; es geht mir um die Wahrung der Rechte von Kindern. Sie sollten den unvermeidlichen Risiken einer scientologischen Erziehung nicht ausgesetzt werden, wenn es eine sinnvolle Alternative gibt!

 

Anmerkungen

[1] Fehlsteuerung des Verstandes
[2]"Der Zweck von Ethik ist: Gegenabsichten aus der Umwelt zu entfernen. Nachdem das erreicht worden ist, Fremdabsichten aus der Umwelt zu entfernen. Gegenabsicht: Entschlossenheit, ein Ziel zu verfolgen, das im Widerspruch zu den Gruppenzielen[2] steht. Fremdabsicht: Geisteszustand, in dem man andere als die Gruppenziele verfolgen will. (HCOPL 18.6.68)
[3]"Führe, ungeachtet einer persönlichen Gefahr, einen effektiven Schlag gegen die Feinde der Gruppe aus, ..." (dabei könne es schon geschehen, dass diese mit dem Kopf aufs Pflaster knallen oder als Geburtstagsüberraschung das Wochenendhaus in Flammen aufgeht)(HCOPL 6.10.67)
Eine Person, die in den Ethik-Zustand Feind zurückgestuft worden ist, gilt als vogelfrei: man darf ihr Eigentum abnehmen, sie in jeder Weise verletzen, ohne dass man von einem Scientologen bestraft wird. Man darf ihr Streiche spielen, sie verklagen, sie belügen oder vernichten. (HCOPL 23.10.67)
[4]"Ich sehe nicht, dass populäre Massnahmen, Selbstverleugnung und Demokratie dem Menschen irgend etwas gebracht haben, ausser ihn weiter in den Schlamm zu stossen. ... die Demokratie hat uns Inflation und Einkommenssteuer beschert." (HCOPL 6.3.66).
Mitleid gilt auf der scientologischen "Emotionsskala" als extrem negative Emotion
Wenn der Durchschnittsbürger zusammenrechnet, was er der Regierung bezahlt, wird er feststellen, dass seine Arztbesuche sehr teuer sind. Allein der chronisch Kranke, dessen Zustand von den Gesunden bezahlt wird, hat einen Nutzen davon. ... er wird mit der Pflege belohnt, die mittels der Bestrafung der Gesunden bezahlt wird ...(HCOPL 6.3.66)
Der Sozialstaat "kann als der Staat definiert werden, der die Nichtproduktion auf Kosten der Produktion belohnt." (HCOPL 6.3. 66)
"Wenn wir demjenigen, der nichts bezahlen kann, genau so viel Aufmerksamkeit widmen (wie dem, der bezahlen kann), belohnen wir eine niedrige soziale Statistik." (HCOPl 6.3.66)
[5]vgl. dazu die Aussagen über Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Leistung ständig um etwa 20% zu steigern:
"Betrachten Sie also jemanden mit stetig niedrigen oder sinkenden Statistiken nicht einmal als Teil des Teams." (HCOPL 6.3.66)
Es gilt auch als verwerflich ...
" die Gründe für niedrige Statistiken zu erklären, statt für höhere zu sorgen; – es kann keinen zu akzeptierenden Grund geben! (HCOPL 7.12.69) "(natürlich auch nicht Krankheit, Alter, ...!)
"Eine Person mit schlechter oder niedriger Statistik an ihrem Posten hat immer einen Overt (= Verbrechen oder Vergehen) von der einen oder anderen Art begangen." (HCO-Pl 30.7.70))
"Hat jemand eine stetig niedrige oder sinkende Statistik, so ermitteln Sie. Nehmen Sie jeden Ethik-Bericht an und halten sie gleich ein "Hearing darüber. Sehen Sie sich nach baldigem Ersatz um." (HCOPL 6.3.66)
"Wir haben Dich lieber tot als unfähig" (HCOP 7. 2. 65) –
[6]"Dianetik wird verwendet, um Krankheiten, unerwünschte Empfindungen, Missemotionen, Somatiken, Schmerzen, ... zu beseitigen und auszulöschen." (NED-Pack; HCOB 22.4.69)
"Was? Heisst das, dass wir die Geisteskrankheit selbst geknackt haben? Genau das....SP. Dies ist die Vielzahl an Arten von Geisteskrankheiten der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, alle in einer: Schizophrenie, Paranoia – die ganze Latte phantastischer Namen. Nur einen anderen Typ gibt es noch – die Person, die der unterdrückerischen Person in die Hände geraten ist. Dies ist der "manisch-depressive Typ, ..." (HCOPL 5.4.65)
[7]Dianetik is a science, it has no opinion about religion (Hervorhebung durch den Verfasser) for sciences are based on natural laws, not on opinions." (Technical Bulletins Band I, S.38)
"Religion bedeutet im österreichischen Staatskirchenrecht Glauben an Gott und eine von diesem Glauben her geforderte Ausrichtung des Lebens." Zitiert nach Berufungsbescheid S. 19
"Scientology ist die Wissenschaft vom Wissen (Hervorhebung durch den Verfasser). Scientology ist die Wissenschaft von der Kenntnis der Wissenschaften." (Scientology8 - 8008, s. 11)
"Scientology ist ein Zweig der Psychologie, die sich mit menschlichen Fähigkeiten befasst Scientology ist eine neue basale Psychologie im exaktesten Sinn des Wortes. Scientology wird durch einen Auditor ausgeübt, der die Leute veranlasst, verschiedene Übungen zu machen, welche Intelligenz und Verhalten verbessern." (Technical Bulletins Bd. II s.405 = PAB vom 1.5.56)
 

UNICEF - Die Konvention über die Rechte des Kindes