Zwischen Fesselung und Befreiung: Scientology

Mit freundlicher Genehmigung von
Dr. Rüdiger Gollnick
 

Historische, pädagogische, psychologische Perspektiven einer unterrichtlichen Umsetzung



Dr. Rüdiger Gollnick ist Wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Dr. Löwisch im Fachbereich 2 (Erziehungswissenschaft) an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, arbeitet mit am Forschungsprojekt "Pädagogische Ethik" und habilitiert sich im Forschungsbereich "Internationale Wertagenturen". Veröffentlichungen zur Historischen und Systematischen Pädagogik, zur Werte-Erziehung; Seminare in der Lehrerfortbildung.
 

1.0 Vorbemerkung

Nachdem in "Pädagogik UNTERRICHT", 2/3 1997, bereits eine Einführung in Grundgedanken der Scientology und die scientologische Sicht des Kindes vor dem Hintergrund der UNO-Kinderrechtskonvention von 1989 gegeben wurde, sollen nun - wie bereits avisiert - weitergehende Perspektiven einer unterrichtlichen Umsetzung des Themas "Scientology" (SC) gegeben werden.
 

2.0 Warnung!

"Warnung! Betreten des schulischen Sicherheitsbereiches ist verboten! Es wird von der juristischen Schußwaffe Gebrauch gemacht!"
Nach der neuen Konzeption von Schule, die sich gesellschaftlicher Wirklichkeit öffnen soll, zeigen sich hier bereits markante Schwierigkeiten für eine solche Öffnung.
  • Vertreter oder Vertreterinnen derartiger problematischer Organisationen - hier speziell Scientology - können aus schuljuristischen Gründen letztlich nicht oder nur sehr bedingt in den Unterricht bzw. zu einer größeren Schulveranstaltung eingeladen werden. Sicherlich stellt sich die juristische Situation anders mit Aussteigern oder Sektenbeauftragten. So empfiehlt es sich, in Kooperation mit Schulleitung, Schüler- und Elternvertretern sowie einer außerschulischen Institution (z.B. VHS) einen erweiterten Unterrichtsansatz im Sinne eines Projektes zu starten.
  • Deshalb ist es sinnvoll und schuljuristisch opportun, den Besuch von Veranstaltungen seitens parteipolitischer oder sonstiger bildungspolitischer Träger anzustreben, - gerade auch dann, wenn ein/e Aussteiger/in und/oder ein/e Vertreter/in von Scientology auch vertreten sind/ist.
  • Aber: Um die sich ergebenden oder gegebenen systembedingten Kontroversen und Problemdimensionen verstehen zu können, sind unterrichtliche Vorbereitungen unverzichtbar und können in den Pädagogik-Unterricht, darüber hinaus in den Philosophie-/Ethik-/Religions- und Politikunterricht, thematisch integriert werden.
  • Deshalb kann eine intensive und ergiebige Beschäftigung mit einem solchen Thema in Selbst- und Gruppenarbeit und in einer Endphase diskursiv auch ausschließlich im schulischen Klassenraum stattfinden (evt. unter Einbeziehung von Filmmaterial: Filmbildstellen, Info-Stellen der Sektenbeauftragten).

3.0 Schul- und studienbezogene Aspekte: selbständiges und forschendes Lernen

Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer stärkeren Straffung des Studiums, was auch wiederum Auswirkungen auf den Unterricht des Gymnasiums hat (Vernetzung: Schul-/Hochschulunterricht), sollen gerade die wissenschaftspraktischen und methodischen Aspekte keineswegs vernachlässigt werden, da sie zudem noch effizient in die inhaltliche Konzeption des Unterrichtes integriert werden können. Zwar werden an den Hochschulen diesbezügliche Methodenkurse angeboten bzw. vorgeschrieben, doch Studierende erinnern sich in der Regel dankbar an ihre Lehrpersonen, die mit ihnen bereits praktisch (!) eine solche Arbeit konkretisiert haben. Sie haben faktisch einen Vorsprung vor anderen Studierenden, unterliegen weniger diesbezüglichen Unsicherheiten und Irritationen.
Bei einem solchen Arbeitsansatz tauchen studienrelevante, typische Probleme auf, die in einem zumutbaren Maße von Mittelstufen- und Oberstufenschülern in Verbindung mit der Lehrperson zu bewältigen sind, wobei nicht der quantitative Umfang einer solchen Arbeit entscheidend ist:
  • Eingrenzung des Themas (enge Definierung der erkenntnisleitenden Fragestellung - beantwortende Abhandlung);
  • Anfertigung einer thematischen Grobgliederung (Strategieentwicklung: zu behandelnde Aspekte, ihre mögliche Gewichtung, Primär-/Sekundärliteratur; Schreiben in geblockten Zusammenhängen, Vernetzung dieser Aspekte-Text-Blocks in einer späteren Redaktionsphase);
  • Zitationsprobleme; Bibliographie;
  • Fußnoten auf der Textseite oder Anmerkungen im Separatteil;
  • Gliederung (Differenzierungssystem, Überschriftenformulierung);
  • Darstellungsprobleme (sprachlich-begrifflicher und redaktioneller Art, Statistiken, Layout etc.);
  • Zeitmanagement;
  • Arbeitsmanagement / Eigendisziplin.
Der Fachbereich 2 (Erziehungswissenschaft) der Gerhard-Mercator-Universität hat eine Broschüre "Wegweiser" herausgebracht, die sich speziell an Erstsemester wendet und die o.a. Aspekte kleinschrittig und praktikabel mit konkreten Beispielen und Merkkästchen vermittelt (Tips und Normen: Hausarbeit, Referat, Vortrag, Zitation, Bibliographie, Foliengestaltung, Tafelbild etc.). Der "wegweiser" ist auch für Mittelstufenschüler (9./10. Jahrgang) verstehbar und in die Praxis umzusetzen. Die Broschüre mit Flexo-Umschlag ist geheftet und hat 48 Seiten Inhalt.
 

4.0 Hinführungen zum Thema

Eine direkte Hinführung zum thematischen Komplex "Scientology" ergibt sich
  • aus der Aktualität einer Nachrichtenmeldung/Zeitungsmeldung:
    • Zeitungskampagnge der SC; Gerichtsurteile im Zusammenhang mit SC; öffentliche Anklage der BRD seitens der SC; ökonomische Aktivitäten von SC;
  • aus der Aktualität einer Postwurfsendung, einer Straßenwerbung von SC;
  • aus der Aktualität und Notwendigkeit einer entwicklungspädagogisch notwendigen Grundorientierung:
    • Sozialisationsprozeß: Wert der Individualität (implizit das Spannungsverhältnis von Individuum - Sozietät) - Gefahr des Individualismus (die sog. "Individualismusfalle"); Individuum (Ich) - Gruppe (Familie etc.) - Großgruppe (Staat);
    • Enkulturationsprozeß: Natur - Kultur; Kultur - Zivilisation; Erziehung - Bildung; Rationalität - Emotionalität; Tradition - Progression; Freiheit - Notwendigkeit; Leistung - Arbeit; Beruf - Job; Pflicht - Muße; Arbeitszeit - Freizeit;
    • Zielorientierungen / Wertorientierungen (kollektive und individuelle Wertvorstellungen): Was mache ich aus meinem Leben? Was möchte ich aus meinem Leben machen? Was wird aus meinem Leben gemacht?
    • entwicklungssoziologische/-psychologische/-pädagogische Aspekte: Kind - Jugendlicher - junger Erwachsener; Vorpubertät - Pubertät -Adoleszenz: Erziehungsbedürftigkeit - Erziehungsnotwendigkeit; Kind/Jugendlicher - Eltern; Familie - Restfamilie; Geschlechtigkeit - Autonomie - Verantwortung; Eigenverantwortung - Fremdverantwortung (Erzieher); Schule - Ausbildung - Studium - Arbeitsmarkt - Wirtschaftsdaten; Pluralität - demokratisch verfaßte Gesellschaft (Grundgesetz) - Bipolarität (S-W-Wahrnehmen, -Denken, -Werten) - Fundamentalismus/Extremismus

5.0 Unterrichtliche Handreichungen zur Durchführung

Eine Auswahl der o.a. Aspekte läßt sich vorhergehend oder begleitend mit den entsprechenden Unterrichtswerken bearbeiten. Zum motivationalen und sachorientierten Einstieg in unterschiedliche Aspekte der Thematik eignet sich vorzüglich der gerade erschienene autobiographische Roman vom SC-Aussteiger Norbert Potthoff: Im Labyrinth der Scientology. Bergisch Gladbach 1997 (Bastei/Lübbe Tb.; Preis z.Zt. 14,90 DM).
 

5.1 Ein literarischer mehrdimensionaler Einstieg

In narrativer Form werden hier die Impulse, Strategien, menschlichen Stärken und Schwächen, Rationalität und Emotionalität der beteiligten Personen komplex, eben nicht vordergründig und polemisch sowie reißerisch, in einem sozialen Netzwerk - erlebnishaft nachvollziehbar - dargestellt. Es ergeben sich von diesem autobiographischen Roman aus eine Vielzahl von o.a. Aspekten, wobei man durch die Konkretheit der Darstellung sehr schnell einen Verstehenszugang zu vertiefender Sachliteratur hinsichtlich SC findet.
Aufgrund des leicht zu lesenden autobiographischen Romans ergeben sich für Schüler/innen erkenntnisleitende Fragestellungen, die sie selbst entwickeln und weiterverfolgend bearbeiten können, wenn gewisse u.a. Literatur zur Verfügung gestellt wird. Eine solche Vorgehensweise kann dann auch zu einer größeren Hausarbeit führen, die als Klassen-/Kursarbeit - nach vorheriger Absprache und Abklärung - anerkannt werden kann (s.o. Abschn. 3.0).
 

5.1.1 Anthropologische Aspekte

Ein wesentlicher Bestandteil scientologischer Technologie stellt das Auditing dar. Es wird auch als unverzichtbares Mittel bei der Erziehung der Kinder angesehen. Wie bei Kindern sich so etwas abspielt, ist bereits im o.a. PU-Aufsatz ansatzweise skizziert worden; ausführliche Beispiele findet man in Hubbards "Kinder-Dianetik" (Literatur s. PU 2/3, 1997). In Potthoffs Roman wird Auditing mit den entsprechenden psychischen Begleitumständen positiver und negativer Art ausführlich dargestellt. Die Scenarien lassen sich sehr gut nachvollziehen und problematisieren auf Jugendliche und junge Erwachsene hin, - vor allem auch vor dem Hintergrund des Fehlens eines kompetenten Psychologen oder Psychotherapeuten beim Auditing. Analoges gilt für die sog. "Reinigungskuren". Von daher lassen sich Perspektiven zu Fragen der Entwicklungspädagogik/-psychologie/-soziologie ziehen. Weitergehend kann die mentale Formatierung von Menschen (psychosoziale und psychomentale Manipulation) aufgrund dieses Romans verfolgt werden, so daß die fundamentale Fixierung auf dieses System mit allen individual- und sozialpsychologischen Folgen (s.u. Klosinski) verstehbar wird.

Literaturhinweise:

K.-H. Eimuth: Die Sekten-Kinder. Mißbraucht und betrogen. Erfahrungen und Ratschläge. Freiburg/Basel/Wien 1996 (Herder-Spektrum-Tb.)

R. Gollnick: Studien zur Ethik und Pädagogik der Scientology. Sankt Augustin 1998 (Januar 1998 erschienen)

G. Klosinski: Psychokulte. Was Sekten für Jugendliche so attraktiv macht. München 1996 (Beck'sche Reihe)

Als allgemein einführende Literatur sei auch auf - P. Köpf: Stichwort: Scientology. München 1995 (Heyne Sachbuch Tb.) verwiesen, die auch von S I-Schülerinnen und Schülern ohne wesentliche Schwierigkeiten gelesen werden kann.
 

5.1.2 Wertorientierungen / Normeninternalisierung - "Glaubensbekenntnis" (Anhang)

Auch für dieses Thema bietet der Roman eine Fülle von analytisch zu ermittelnden Daten, was intensive Textarbeit voraussetzt. Es wird die Entwicklung von Menschen hinsichtlich ihrer Wert-Umorientierung im Sinne eines Werte-Bruches aufgezeigt und ihre soziale Isolierung infolge einer systembedingten Fixierung dargestellt. Das entwicklungspädagogisch interessante Thema und Problem der Werterziehung kann hierbei erarbeitet werden.

(Klicken Sie hier für das "Glaubensbekenntnis der Scientology Organisation"; im Buch "Pädagogik Unterricht" 18. Jahrgang Heft 1, Februar 1998 auf Seite 45 abgebildet)
 

Literatur allgemein zur Werteerziehung:

R. Gollnick: Werte-Erziehung, PU 2/3 1996, S. 2-16

D.-J. Löwisch: Einführung in Pädagogische Ethik. Darmstadt 1995

Verwiesen sei ferner auf die äußerst preiswerte, neueste Shell-Jugend-Studie!

Es kann einen Schritt weitergegangen werden, indem das scientologische Glaubensbekenntnis als ein Bekenntnis zu bestimmten Werten mit handlungsnormierender und gesellschaftspolitischer Wirkung analysiert und reflektiert wird. Ausführlich wird das scientologische Glaubensbekenntnis analysiert und interpretiert:

R. Gollnick: Das Wege-Scenario in seiner pädagogischen Konzeption als »Lebensweg« - aufgezeigt an Escrivás »Der Weg« und Hubbards »Ethik«. In: R. Gollnick: Pädagogische Weg-Markierungen. Festschrift für D.-J. Löwisch. St. Augustin 1996, S. 123-170

ders.: Studien zur Ethik und Pädagogik der Scientology. Sankt Augustin 1998
 

5.2 Zwei aktuelle Einstiege und mögliche Vertiefungen

Scientology hat wiederholt Pressekampagnen gegen die BRD initiiert, von denen hier einige Beispiele gegeben werden. Dabei können diese hier abgedruckten Beispiele historisch bzw. systematisch angegangen werden
 

5.2.1 "Preserve That Freedom" (Anhang)

Die "Church of Scientology",
  • deren Gründer der Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard (1911-1986) ist,
  • die sich heute selbst als Religionsgemeinschaft und Kirche bezeichnet, obwohl sie von ihrem Ursprung und von ihrem ideologischen Ansatz her als propagierte und vermarktete Psychotechnik zur geistigen Selbstbefreiung zu taxieren ist,
  • die mit außerordentlich starken kommerziellen Interessen und mit einem zentralistischen und weltweit agierenden Apparat Strategien zur "Reinigung der Welt" und auch Deutschlands (Clear Germany) agiert,
schaltete u.a. im Jahre 1994 in einigen großen amerikanischen Tageszeitungen Anzeigen, die der Bundesrepublik Deutschland weltöffentlich als Verletzerin der Menschenrechte markierten. Anlaß dieser Medienkampagne war wohl in dem zunehmenden Druck auszumachen, unter den Scientology in Deutschland infolge zunehmender qualifizierter Recherche geriet.

In der hier vorliegenden Anzeige in der New York Times ist als zentraler und optischer Blickfang das Foto von der Befreiung des KZ Dachau Ende April 1945 (29.04.45) durch Angehörige der amerikanischen "RAINBOW DIVISION" (42. Reg.) positioniert. Damit wird zunächst eine Vernetzung von amerikanischem Engagement für Freiheit, für Lebensrecht aller, gegen Rassismus und Verfolgung von Menschen jedweder Art in historischer Zeit (bevorstehende 50 JAHRFEIER) mit aktuellen sozialen und politischen Problemen der BRD verknüpft (Zustromproblematik, Asylbewerber-, Aussiedlerthematik, Rechtsextremismus; Ausschreitungen, Übergriffe etc.).

(Klicken Sie hier um die Anzeige aus der New York Times zu lesen; im Buch "Pädagogik Unterricht" 18. Jahrgang Heft 1, Februar 1998 auf Seite 47 im Original mit Foto abgebildet)

Der Zeitpunkt für die Anprangerungskampagne war politisch geschickt gewählt, da in dieser Zeit die potentielle Aufnahme der BR Deutschland als ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat international andiskutiert wurde; zudem jährte sich zum fünfzigsten Mal die Befreiung des KZ Dachau durch amerikanische Truppen (April 1945 - April 1995). In Dachau selbst fanden unter Einbeziehung von Angehörigen der damaligen Rainbow-Truppe offizielle Feierlichkeiten statt.

Analyse:

Das historische Deutschland / NS-Staat wird mit dem gegenwärtigen in Verbindung gebracht mit der Perspektive der Wiederholbarkeit ideologischer, politischer und militärischer Katastrophen. Fokussiert wird die hochkomplexe Thematik von Diskriminierung und Verfolgung Andersdenkender, Fremdrassiger etc., die in unterschiedlicher Intensität und Qualität auch in den anderen europäischen und amerikanischen Staaten gegeben sind, allein auf Deutschland und als genuin deutsches Problem historisch begründet. Wichtig ist in dieser Anzeige die Text-Struktur, die den Aufbau einer bestimmten thematischen Assoziationskette im Rezeptionsprozeß eben dieser Anzeige beim Leser intendiert:

  • NS-Deutschland vor 50 Jahren - 6. Juni - Landung in der Normandy - Beginn der Befreiung.
  • NS-Deutschland - das unfreie Deutschland - mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen, festgemacht an der Eroberung des KZ Dachau. KZ Dachau - Symbol und Modell für die nachfolgenden KZ's in Deutschland, - Symbol für die Manifestation von Inhumanität.
  • Befreiung durch Amerikaner - Wiederherstellung der Menschenrechtstradition in Deutschland (Verfassungskonstitution als passives Element). Jetzt der Appell an die Amerikaner und an eine Weltöffentlichkeit, die nicht potentielle, sondern reale Wiederkehr des Terrors "gegen Mitglieder von religiösen Minderheiten und ethnischen Gruppen" in Deutschland zu verhindern (mit kurzen Verweisen auf Einzelfall, Umfrage des American Jewish Committee, Scientologen, Rosenkreuzern).
  • Deutschland - eine Gefahr für die Weltgemeinschaft. Über die Führungsmacht hinaus wird eine Weltöffentlichkeit aufgefordert, Deutschland zu blockieren, das einen Sitz im Sicherheitsrat in der UNO anstrebt.
"Noch ist Deutschland in der Gewalt des gleichen Hasses, der die Welt veranlaßte, Deutschland zu überwachen."
Diese Argumentation ist zu sehen vor dem historischen Hintergrund folgender Vorgänge, die einen Bruch Deutschlands mit der Menschen- und Völkerrechtstradtition darstellten:
Mit der Machtübernahme (30.01.33) und mit dem Ermächtigungsgesetz (24.03.1933), mit der Verfolgung und Ausschaltung der direkten politischen Gegner in 1933, mit der "Säuberung" des Staatsapparates (Gesetz zum Berufsbeamtentum, 04.05.33), mit der Liquidierung der politischen Konkurrenten (Röhm-Putsch) in 1934 und mit der systematischen Verfolgung der religiös-weltanschaulichen Gegner in den Folgejahren (Verbot konkurrierender Jugendorganisationen, 1936 Hitler-Jugend wird Staatsjugend), mit den Nürnberger Rassegesetzen (15.09.1935), mit dem Euthanasieprogramm in 1939/41 (Liquidierung von "lebensunwertem Leben), mit der "Reichskristallnacht" 9./10.11.1938, mit dem Anschluß Österreichs 1938 und dem Anschluß des Sudetenlandes und der Zerschlagung der Tschechoslowakei in 1939, mit dem Überfall auf Polen 1939 und auf die Sowjetunion 1941, mit der Wannsee-Konferenz zur Endlösung der Judenfrage (20.01.1942; erste Judenvergasungen in Auschwitz Sept.1941), mit der industriell organisierten Vernichtung von Juden, ethnischen Minderheiten (v.a. Sinti und Roma), von "Volksschädlingen" (Kriminellen, Homosexuellen, Arbeitsscheuen, sozial Auffälligen etc.) ...
hält sich die Regierung des Deutschen Reiches, halten sich deutsche Institutionen und deutsche Bürger nicht mehr an gültig geschlossene internationale Verträge, brechen aus der historischen Tradition der Menschenrechte heraus, niedergelegt in den europäischen Verfassungen.
Eine stärker historische Vertiefung wäre dann z.B. mit der Pädagogik J. Korczaks zu verbinden.
 

5.2.2 "An Open Letter to Helmut Kohl"

Am Dienstag, dem 09. Januar 1997, erschien in der "International Herald Tribune" eine Anzeige (Advertisement) in der Form eines "Offenen Briefes" an den Kanzler der BR Deutschland, unterzeichnet von 36 Personen des öffentlichen Lebens in Amerika (Nicht-Scientologen), die sich gegen "die staatliche organisierte Diskriminierung" von Scientology-Anhängern und implizit des Religionssystems "Scientology" in der BR Deutschland wenden.
 

AN OPEN LETTER TO HELMUT KOHL

Chancellor of the German Federal Republic
December 1996
Dear Chancellor Kohl:

We have signed this letter to indicate our deep concern at the invidious discrimination against Scientologists practiced in your country and by your own party. We are not Scientologists, but we cannot just look the other way while this appalling situation continues and grows.

In the Germany of the 1930s, Hitler made religious intolerance official government policy. Jews were at first marginalized, then excluded from many activities, then vilified and ultimately subjected to unspeakable horrors.

The world stood by in silence. Perhaps if people had spoken up, taken a stronger stand, history would tell a different story. We cannot change history, but we can try not to re-live it.

In the 1930s, it was the Jews. Today it is the Scientologists. The issue is not whether one approves or disapproves of the teachings of Scientology. Organized governmental discrimination against any group on the basis of its beliefs is abhorrent even where the majority disagree with those beliefs.

And, when individuals hold personal beliefs that they consider their religion, it is not the place of a democratic government to proclaim by fiat that they are not a religion in order to evade laws against religious discrimination. Besides, the German courts have held more than once that Scientology is, in fact, a religion.

Individuals guilty of no crime but believing in Scientology are banned from German political parties, including your own. Scientologists cannot obtain employment by your government or contracts with that government. Children have been excluded from schools because their parents are Scientologists. Your Minister of Labor proposed the adoption of a ban on Scientologists from all positions of public service. And - like the book burning of the 1930s - your party has organized boycotts and seeks to ban performances of Tom Cruise, John Travolta, Chick Corea and any other artist who believes in Scientology.

These acts are intolerable in any country that conceives of itself as a modern democracy. This organized oppression is beginning to sound familiar ... like the Germany of 1936 rather than 1996. It should be stopped - now, before it spreads and increases in virulence as it did before.

You may feel that, as non-Germans, this is not our business. But todays World is a smaller, different place. We are far more dependent upon one another. When a modern nation demonstrates its unwillingness to protect the basic rights of a group of its citizens, and, indeed, exhibits a willingness to condone and participate in their persecution, right thinking people in other countries must speak out. Extremists of your party should not be permitted to believe that the rest of the World will look the other way. Not this time.

Those who seek to gain political power or to indulge personal hatreds by repeating the deplorable tactics of the 1930s cannot be permitted that luxury. This time voices will be raised.

We implore you to bring an end to this shameful pattern of organized persecution. It is a disgrace to the German nation.
 
 
Robert Bookman
John Calley 
Sanford R. Climan
Constantin Costa-Gavras
Bertram Fields
Andrew M. Fogelson 
Larry Gordon
Goldie Hawn
Barry Hirsch 
Dustin Hoffman
Alan Horn
Kevin Huvan
Larry King
Lawrence M. Kopeikin
Arnold Kopelson
Raymond Kurtzman
Sherry Lansing
Michael Marcus
Doug Morris
Rick Nicita
Morris Ostin
Mario Puzo
Jack Rapke
Terry Semel 
Sid Sheinberg
Casey Silver
Tina Sinatra
Aaron Spelling
Sheldon Sroloff
Oliver Stone
Robert Towne
Gore Vidal
Paula Wagner 
Fred Westheimer

Analysesaspekte:

  • Die historisch-politische Vergleichssetzung - NS-Staat - BRD / Juden - Scientologen / 1936 - 1996 - ist vom Grundansatz her nicht wirklichkeitsentsprechend (Geschichts- und Begriffsverständnis, Hintergrund: gravierende Denominationsprobleme bez. Religion, Glaube, Person etc.).
  • Der NS-Staat ist nicht wesentlich durch eine religiöse Intoleranz, sondern durch einen weltanschaulichen Totalanspruch (Totalitarismus) und durch eine exklusive Rassenideologie gekennzeichnet. Von der Argumentationsbasis der Unterzeichner her wäre dann, würde die Vergleichsbasis durchgehalten, die NS-Weltanschauung wesentlich eine Religion. Sie ist aber von ihrem Selbstverständnis her vielmehr eine politische Weltanschauung.
  • Hier werden die o.a. Denominationsprobleme seitens der amerikanischen Unterzeichner überdeutlich: "In the 1930s, it was the Jews. Today it is the Scientologists. The issue is not whether one approves or disapproves of the teachings of Scientology. Organized governmental discrimination against any group on the basis of its beliefs is abhorrent even where the majority disagree with those beliefs." Jede weltanschauliche und religiöse Gruppe hat eine politische Dimension, sie wirkt nicht nur religiös und intrapsychisch; von daher ist sie immer von gesellschaftspolitischem und damit auch - fachspezifisch gewendet - von pädagogischem Interesse, weil sie Zugriffe auf Menschen intendiert und faktisch auch hat. Das Problem des "disagree with those beliefs" ist nicht eine Frage von "majority", sondern eine menschenrechtliche, damit prinzipienorientierte Frage, eine verfassungspolitische und dann eine gesellschaftliche Frage wesentlich auch von pädagogischer Relevanz (Erziehung, Ich-Entfaltung, Persönlichkeitsvorstellung, Pluralität - Uniformität). Interessant ist hier die exemplarische Funktion von SC: "... against any group on the basis of its beliefs ...".
  • Das hier aufgeworfene Problem ist ein typisches Wertrangproblem: Der Wert individueller Freiheit (Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit etc.) wird hier über den Wert der Sozialverträglichkeit (Integritätssicherung des Mitmenschen, soziale Gerechtigkeit, Toleranz) gesetzt. Hier dokumentieren sich erhebliche Interpretationsdifferenzen und -probleme hinsichtlich menschenrechtlicher Konventionen von amerikanischer und kontinentaleuropäischer Traditionsbasis aus.
  • Mit einer Wertvorstellung ist - weitergehend betrachtet - auch eine Wertrealisierung verbunden, so daß mit totalitaristisch-dogmatischen Weltanschauungssystemen eine Außerkraftsetzung pluralistisch-demokratischer Gesellschaftssysteme verbunden ist. Der Totalanspruch eines Systems zur Befreiung der Individuen bzw. der Gesellschaft führt zur Fesselung eben der Individuen bzw. der Gesellschaft. Dies ist ein grundsätzliches Problem mit dem System und der Organisation Scientology.

5.2.3 Weitere unterrichtliche Perspektiven und Literaturangaben

NS-Pädagogik:
Eine gute kompakte Einführung in Grundgedanken der NS-Pädagogik und ihre schulorganisatorische Praxis bietet noch immer:
D.-J. Löwisch: Erziehungssysteme. A Erziehung im Nationalsozialismus. In: Arbeitsbuch Pädagogik 4 (Neu). Hrsg. u. bearb. v. W. Fischer / D.-J. Löwisch / J. Ruhloff. Düsseldorf 6. Aufl. 1983, S. 9-46
W. Keim: Erziehung unter der Nazi-Diktatur. Bd. I .; Bd. II. Darmstadt 1997 (gerade erschienen Wiss. Buchges.)

NS-Zeit:
Historischer Hintergrund (Entwicklungen und Daten)
Generelle Rezeption der NS-Zeit durch Scientology (s. Anzeigen)

Nachkriegszeit:
UNO-Menschenrechtsdeklaration / UNO-Kinderrechtskonvention / Grundgesetz der BRD:

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 1996 (i.d.R. kostenlos im Klassen- oder Kursset zu beziehen über Bundeszentrale)

D. Hesselberger: +. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. 10., überarb. Aufl. Neuwied 1996 (darin enthalten: Grundgesetz für die BRD, UNO- Menschenrechtsdeklaration u.a.; zu beziehen über Bundeszentrale)

R. Gollnick: Die scientologische Sicht des Kindes vor dem Hintergrund der UNO-Kinderrechtskonvention. In: PU 2/3 1997, S. 15-44 (dort auch weitergehende Literatur, die hier nicht mehr aufgeführt werden braucht. Empfehlend sei auf das Gutachten von H.-G. Jaschke verwiesen.)

R. Gollnick: Studien zur Ethik und Pädagogik der Scientology. Mit Graphiken von M.Chr. Honekamp. Sankt Augustin 1998.


Erschienen in: Pädagogik UNTERRICHT 1/1998. S. 40-52



Copyright© des Textes bei Dr. Rüdiger Gollnick; HTML und Links durch Ilse Hruby



Siehe auch:
Dr. Rüdiger Gollnick:
Die scientologische Sicht des Kindes vor dem Hintergrund der UNO-Kinderrechtskonvention
Erschienen in: Pädagogik Unterricht 2/3 1997. S. 15-44


Buchtipp:


Studien zur Ethik und Pädagogik der Scientology
von Dr. Rüdiger Gollnick


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